- Eine europaweite Umfrage des ECFR zeigt, dass überwiegende Mehrheiten in Deutschland (52%), Frankreich (51%), Italien (51%), Polen (73%), Rumänien (64%) und Schweden (55%) erwarten, dass Russland 2022 in die Ukraine einmarschieren wird. In Finnland teilt immerhin eine große Mehrheit (44%) diese Ansicht.
-
Als Hauptverteidiger der ukrainischen Souveränität wird die NATO angesehen; die Europäer:innen sind aber auch der Meinung, dass die EU im Fall russischer Aggression hinter der Ukraine stehen sollte.
-
Der Ukraine Unterstützung zukommen zu lassen, wird von vielen als ein vertretbares Risiko angesehen, wenngleich sich die meisten Menschen weniger engagiert zeigen, wenn es um die Rolle ihres Heimatlandes bei der Verteidigung der Ukraine geht.
-
Nach Ansicht der Außenpolitikexperten Mark Leonard und Ivan Krastev werden die kommenden Wochen zeigen, „ob die Europäer:innen den Übergang von einer von Soft Power geprägten Welt zu einer von Resilienz geprägten schaffen können“ – und dass die landläufige Vorstellung, ein Krieg sei „undenkbar“, nicht mehr stimmt.
Russlands militärische Aktivitäten an der ukrainischen Grenze haben in Europa einen Stimmungsumschwung nach sich gezogen. Vor dem Hintergrund sich rasant zuspitzender Spannungen gehen Mehrheiten in Europa inzwischen davon aus, dass Russland 2022 in die Ukraine einmarschieren wird. Darüber hinaus vertreten sie die Ansicht, dass die EU und die NATO in einem solchen Szenario hinter Kiew stehen sollten. Dies geht aus einem neuen, von Umfragen gestützten Bericht hervor, der heute vom European Council on Foreign Relations (ECFR) veröffentlicht wird.
Die vom ECFR in sieben EU-Mitgliedstaaten durchgeführte Umfrage ergab, dass die europäischen Bürger:innen im Falle eines Konflikts zwischen der Ukraine und Russland die NATO und ihre dreißig Mitgliedstaaten als die wichtigsten Partner bei der Verteidigung der ukrainischen Souveränität ansehen. Besonders ausgeprägt ist diese Haltung in den geografisch nahe der Ostgrenze Europas gelegenen Mitgliedstaaten Polen, Schweden, Rumänien und Italien.
Die Umfrage ergab auch, dass die Europäer:innen im Hinblick auf die Verteidigung der Ukraine ihr Vertrauen sowohl in die NATO als auch in die EU setzen und den Vereinigten Staaten nicht vertrauen, dass sie sich im Falle eines russischen Einmarschs in die Ukraine in gleichem Maße oder stärker für die Interessen der EU-Bürger:innen einsetzen. In allen Ländern mit Ausnahme von Polen und Rumänien trauen die Menschen eher Deutschland als den Vereinigten Staaten zu, die Interessen der EU-Bürger in einem solchen Szenario zu verteidigen. Und selbst in Polen sehen die Befragten die NATO (75%) und die EU (67%) – und nicht die Vereinigten Staaten (63%) – als diejenigen an, die in dieser Frage am vertrauenswürdigsten sind.
Die neue ECFR-Umfrage wurde von Datapraxis, AnalitiQs und Dynata in sieben EU-Mitgliedstaaten – Deutschland, Finnland, Frankreich, Italien, Polen, Rumänien und Schweden – durchgeführt und zeigt des Weiteren, dass die europäischen Bürger:innen bereit sind, als Folge einer Unterstützung der Ukraine „große“ und potenziell langfristige Bedrohungen in Kauf zu nehmen. Dazu zählen der eine höhere Anzahl an flüchtenden Menschen an den europäischen Grenzen, steigende Energiekosten, neue wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen, Cyberangriffe und die Bedrohung durch weitere Militäraktionen von russischer Seite.
Überwiegende Mehrheiten in den fast allen befragten Staaten (Polen 77%, Italien 68%, Rumänien 65%, Deutschland 59%, Finnland 59%, Frankreich 51%) und eine deutliche Mehrheit in Schweden (47%) sehen in der Energieabhängigkeit eine Sicherheitsbedrohung für ihr Land im Zusammenhang mit der aktuellen Krise. Polen, Schweden und Rumänien sind die Länder, in denen die Befragten am ehesten die Ansicht äußern, dass es sich lohnt, im Falle einer russischen Invasion das Risiko aller oben genannten Folgen zu tragen. In Frankreich, Finnland und Deutschland sind die meisten der Meinung, dass die Vorteile die Risiken nicht aufwiegen.
Ergebnisse der europaweiten ECFR-Umfrage in sieben EU-Mitgliedstaaten:
-
Die Europäer:innen erwarten 2022 einen Einmarsch Russlands in die Ukraine. In allen befragten Ländern – mit Ausnahme von Finnland – gehen die Befragten mit deutlicher Mehrheit davon aus, dass Russland dieses Jahr in die Ukraine einmarschieren wird. Die Aufschlüsselung für die einzelnen Länder ist wie folgt: Deutschland 52%, Finnland 44%, Frankreich 51%, Italien 51%, Polen 73%, Rumänien 64%, Schweden 55%. Dabei ist eine bemerkenswerte Kluft zwischen den Generationen festzustellen: In Frankreich und Schweden sind es eher die über 60-Jährigen, die eine Invasion für wahrscheinlich halten, während in Rumänien, Italien, Deutschland und Finnland die jüngste Generation – die nach dem Ende des Kalten Krieges geborenen – eine solche Invasion am ehesten für realistisch hält.
-
Die Europäer:innen vertreten die Auffassung, dass die NATO und die EU der Ukraine im Falle einer russischen Invasion zur Seite stehen sollten. In allen befragten Ländern werden die NATO und die EU als die Organisationen angesehen, die die Ukraine am besten verteidigen können. Die Aufschlüsselung für die einzelnen Länder: Deutschland 47% EU / 50% NATO, Finnland 56% / 59%, Frankreich 53% / 55%, Italien 64% / 67%, Polen 80% / 79%, Rumänien 57% / 63%, Schweden 61% / 64%. Einzig in Polen wird die EU etwas stärker eingeschätzt. Auf die Frage, wem sie im Fall einer russischen Invasion in der Ukraine zutrauen, die Interessen der EU-Bürger:innen zu verteidigen, spricht in jedem Land mindestens die Hälfte der Befragten – in Polen, Schweden, Italien und Rumänien sogar mehr als 60% – der EU ihr Vertrauen aus. In Schweden und Finnland haben die Befragten in diesem Punkt ein größeres Vertrauen in die EU als in die NATO (wenngleich beide Mehrheiten erhalten).
-
Die Europäer:innen sehen als Folge der Haltung Russlands gegenüber der Ukraine erhöhte „Sicherheitsbedrohungen“ für ihre Heimatländer entstehen. Mehrheitlich sehen die vom ECFR Befragten in der derzeitigen Haltung Russlands gegenüber der Ukraine eine „große Sicherheitsbedrohung“ für ihr jeweiliges Land in den Bereichen Energieabhängigkeit, Wirtschaft, Migration, Cyber-Kriegsführung und Militäreinsatz. In Polen, Rumänien und Schweden geben die Befragten auch am ehesten an, dass eine Unterstützung der Ukraine in jedem dieser Bereiche „das Risiko wert“ sei, die Konsequenzen zu tragen. Insbesondere in Polen sind die Befragten (53%) der Ansicht, dass die Unterstützung der Ukraine das Risiko einer gegen ihr Land gerichteten russischen Militäraktion wert ist; 61% sagen, dass sie das Risiko eines nationalen wirtschaftlichen Abschwungs wert ist.
-
In der Energieabhängigkeit sehen Europäer:innen die größte gemeinsame Herausforderung im Umgang mit Russland. In allen befragten Ländern, mit Ausnahme Schwedens (47%), sehen überwiegende Mehrheiten in Russlands Haltung gegenüber der Ukraine eine Sicherheitsbedrohung für ihr Land in diesem Bereich. Am ausgeprägtesten ist diese Ansicht in Polen, wo 77% der Befragten die Haltung Russlands gegenüber der Ukraine als große Sicherheitsbedrohung im Bereich der Energieabhängigkeit ansehen. In Deutschland, dem EU-weit größten Abnehmer von russischem Gas, sagen dies 59%, und auch in Finnland (59%), Frankreich (51%), Italien (68%) und Rumänien (65%) teilt eine überwiegende Mehrheit diese Ansicht.
In ihrer Analyse dieser Ergebnisse kommen die Außenpolitikexperten Mark Leonard und Ivan Krastev zu dem Schluss, dass, sollte Wladimir Putin beabsichtigt haben, die Europäer:innen durch die Androhung einer Invasion zum Nachdenken über die Tragfähigkeit der Ordnung nach dem Kalten Krieg zu „zwingen“, ihm dies „erfolgreich gelungen“ sei. Der russische Präsident könnte allerdings überrascht sein, wie stark in Europa das Bekenntnis zur Verteidigung der Ukraine sei. Ihrer Ansicht nach „werden die nächsten Wochen zeigen, ob die Europäer:innen den Übergang von einer von 'Soft Power' (weicher Macht) geprägten Welt zu einer, die von Resilienz, von Widerstandsfähigkeit, geprägt ist, meistern können“; und diese Frage werde „entscheidenden Einfluss“ auf die Zukunft der europäischen Sicherheit haben.
Mark Leonard, Mitbegründer und Direktor des ECFR, kommentiert die Untersuchung:
„Die Krise zwischen Russland und der Ukraine könnte sich als Wendepunkt für die europäische Sicherheit erweisen. Die EU-Staaten wurden in Bezug auf die Ukraine als gespalten, schwach und unbeteiligt dargestellt. Unsere Umfrage zeigt jedoch, dass die europäischen Bürger im Norden, Süden, Osten und Westen einer Meinung sind. Sie halten es für möglich, dass Wladimir Putin militärische Maßnahmen ergreift, und sind sich einig, dass Europa der Ukraine gemeinsam mit seinen Partnern in der NATO zur Seite stehen sollte.
Die von uns erfassten Zahlen zeugen von einer Art geopolitischem Erwachen in Europa und machen vier grundlegende Punkte deutlich: dass ein Krieg in Europa wieder denkbar ist; dass die EU auf die russische Aggression reagieren sollte; dass die größten Befürchtungen im Hinblick auf diesen Konflikt länderspezifisch sind; und dass die EU und die Regierungen ihrer Mitgliedstaaten jetzt Vorbereitungen treffen müssen, um die Belastung für ihre Bürger:innen möglichst gering zu halten.“
Ivan Krastev, Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies, ergänzt:
„Unsere Umfrage zeigt, dass es eine gesamteuropäische öffentliche Meinung gibt und dass sie, ungeachtet der Unterschiede zwischen den Nationalstaaten, ein Faktor ist, der die Entschlossenheit der EU, im Falle eines russischen Einmarsches in der Ukraine zu reagieren, eher stärkt als schwächt.
Die Umfrage verweist aber auch darauf, dass Europa noch nicht bereit für eine Ära der Resilienz ist, in der die Stärke der geopolitischen Akteure nicht nur dadurch definiert wird, wie viel Schmerz sie anderen zufügen können, sondern auch dadurch, wie viel Schmerz sie selbst ertragen können.“
Diese neue Erhebung und der dazugehörige Kommentar sind Teil eines umfassenderen Projekts des ECFR zum besseren Verständnis von Meinungen und Ansprüchen der Europäer:innen in Bezug auf die Außenpolitik. Bisherige umfragebasierte Veröffentlichungen befassten sich unter anderem mit der Frage, wie die Coronakrise die politischen Ansichten und Identitäten in Europa neu definiert hat, oder untersuchten die Ansichten und Erwartungen der Europäer:innen gegenüber den Vereinigten Staaten und anderen internationalen Mächten.
Weitere Informationen und Details zu den Ergebnissen des Think-Tanks in diesem Zusammenhang finden Sie unter: https://www.ecfr.eu/europeanpower/unlock.
-ENDE-
Hinweise für die Redaktionen
AUTOREN
Mark Leonard ist Gründungsdirektor des European Council on Foreign Relations (ECFR), dem ersten paneuropäischen Think-Tank. Zu seinen Themenschwerpunkten zählen Geopolitik und Geo-Ökonomie, China, EU-Politik und -Institutionen. Sein jüngstes Buch „The Age of Unpeace“ („Das Zeitalter des Unfriedens“) wurde von der Kritik hoch gelobt und von der Financial Times mit der Aufnahme in eine „Pflichtlektüre“-Liste gepriesen.
Ivan Krastev ist Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies in Sofia und Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien. Er ist Gründungsmitglied des ECFR und Kuratoriumsmitglied der International Crisis Group. Er ist Autor von „Ist es schon morgen? Die Paradoxien der Pandemie" („Is It Tomorrow, Yet? The Paradoxes of the Pandemic“).
INTERVIEWS
Die Autoren des Berichts und andere Fachleute des ECFR stehen für Interviews mit interessierten Rundfunk-, Digital- und Printmedien zur Verfügung. Bitte antworten Sie auf diese E-Mail oder wenden Sie sich zur Terminvereinbarung an die Kommunikationsabteilung des ECFR: communications@ecfr.eu
METHODIK
Dieser Bericht basiert auf Meinungsumfragen in sieben Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die im Auftrag des ECFR durch Datapraxis, AnalitiQs und Dynata in Finnland, Frankreich, Deutschland, Italien, Polen, Rumänien und Schweden durchgeführt wurde. Die Umfragen wurden innerhalb der letzten zehn Tage des Monats Januar 2022 mit einer Gesamtstichprobe von 5.529 Befragten durchgeführt.
Es handelte sich um eine Online-Befragung in Deutschland (n = 1.000), Finnland (n = 500), Frankreich (n = 1.000), Italien (n = 1.014), Polen (n = 1.015), Rumänien (n = 500) und Schweden (n = 500). Die Ergebnisse sind für das jeweilige Land repräsentativ, bezogen auf die wichtigsten demografischen Kriterien und frühere Wahlen in jedem Land. Die allgemeine Fehlermarge liegt bei ±3 Prozent bei einer Stichprobengröße von 1.000 und ±4 Prozent bei einer Stichprobengröße von 500.
Die genauen Befragungszeiträume waren: in Deutschland: 21. bis 30. Januar; Finnland: 21. bis 29. Januar; Frankreich: 21. bis 28. Januar; Italien: 21. bis 28. Januar; Polen: 21. bis 28. Januar; Rumänien: 21. bis 28. Januar; Schweden: 21. bis 28. Januar.
BILDMATERIAL FÜR MEDIEN
Der ECFR hat zu dieser Umfrage Grafiken zur kostenfreien medialen Verwendung erstellt, die Sie hier abrufen können.
ÜBER DEN ECFR
Der European Council on Foreign Relations (ECFR) ist ein preisgekrönter, paneuropäischer Think-Tank. Gegründet im Oktober 2007 widmet er sich europaweit der Forschung und der Förderung einer sachkundigen Auseinandersetzung über die Entwicklung einer einheitlichen und erfolgreichen europäischen wertebasierten Außenpolitik. Der ECFR ist eine unabhängige gemeinnützige Organisation, die sich aus verschiedenen Quellen finanziert.
Weitere Informationen finden Sie hier: www.ecfr.eu/about.
|